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Populismus verschmilzt mit der extremen Rechten: Willkommen in der ungarischen Politik

Die regierende Fidesz-Partei von Viktor Orbán schwankt seit ihrem Rauswurf aus der Europäischen Volkspartei im März 2021 zwischen dem Beitritt zur populistisch-radikalen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten oder zur rechtsextremen/populistischen Fraktion Identität und Demokratie.

In Ungarn, noch weiter rechts von Fidesz, gibt es nicht eine, sondern zwei „echte“ rechtsradikale Parteien mit bescheidener öffentlicher Unterstützung. Dabei handelt es sich um die Jobbik-Partei (1 % der Wählerstimmen laut der letzten Republikon-Umfrage) und deren Ableger, die Mi-Hazánk-Bewegung (6 %). Es sollte jedoch angemerkt werden, dass die Meinungsforscher mit dem asteroidenartigen Auftauchen von Péter Magyar am stagnierenden politischen Horizont Ungarns eine neue Ära eingeläutet haben.

Das ehemalige Fidesz-Mitglied, Geschäftsmann und Ex-Ehemann von Ex-Justizministerin Judit Varga, versprach, bei den Wahlen am 9. Juni anzutreten. Magyar kündigte seine Partei Mitte April an und trat damit die Nachfolge eines anderen Kandidaten an, der sich bereits vor der Nominierungsfrist für die Europa- und Kommunalwahlen angemeldet hatte. Magyar gab auch seine Liste der Kandidaten für das Europäische Parlament im Rahmen eines Schnellverfahrens bekannt.

Trotz all dieser Last-Minute-Aktivitäten wird Magyar vom Republikanischen Institut eine Unterstützung von 15 % prognostiziert, sollte er sich für eine Kandidatur entscheiden. Letzteres würde sich zweifellos auf die Chancen der rechtsradikalen Parteien auswirken, bei den Europawahlen Sitze zu gewinnen oder zu verlieren.

„Es wird sich sowieso nichts ändern“

Dennoch ist die ungarische Politik eine der am stärksten aufgeladenen und radikalisierten in Europa. Die jüngsten Demonstrationen haben nur begrenzte Verbindungen zu rechtsradikalen Bewegungen oder Parteien. Vielmehr sind sie als eine zivilgesellschaftliche Reaktion auf die allgemeine Desillusionierung und Politikmüdigkeit zu sehen, die durch das Gefühl hervorgerufen wird, dass sich „sowieso nichts ändern wird“.

Zunächst gab es in diesem Frühjahr eine Welle von Protesten, die von Online-Influencern organisiert wurden. An ihr nahmen zahlreiche Anhänger ohne klare Parteipräferenz teil, die in Budapest auf die Straße gingen, um gegen den Umgang mit dem sogenannten „Pädophilieskandal“ zu protestieren. Der Skandal führte zum Rücktritt der Komitatspräsidentin Katalin Novák und des erwähnten Justizministers.

Der  Protest richtete sich gegen einen einzelnen Akt der Regierung, der nicht von vornherein radikal oder rechtsextrem war, sondern eher als politischer Fehltritt empfunden wurde und auf eine Reform des Kinderschutzsystems abzielte. Die anschließenden Demonstrationen wurden von Péter Magyar organisiert. Magyar kommt zwar von der rechten Seite des politischen Spektrums, aber sein Programm enthält bisher keine extremen Elemente.


‚Obwohl die Zivilgesellschaft von den Rechtsextremen zum Sündenbock für zahlreiche Probleme gemacht wird, bleibt sie beliebter als die traditionellen Oppositionsparteien‘ – Zsolt Nagy, politischer Analyst


Beide Phänomene zielten darauf ab, die gesamte Gesellschaft zu mobilisieren, und strebten nicht danach, sich einer rechtsextremen Partei oder Ideologie anzuschließen. Magyar hat noch kein Partei- oder politisches Programm vorgelegt, aber bisher scheint er sich nicht gegen die Haltung der Fidesz, z. B. zur Migration, zu stellen. Er verwendet absichtlich Themen und Botschaften, die die Wähler zu vereinen scheinen. Progressive Politiken, die echte Alternativen zu den Lösungen der ungarischen Regierungen bieten könnten, scheint er nicht zu übernehmen.

Radikale Botschaften finden nicht genug Anklang

Auf die Frage nach der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung radikaler Rhetorik und Aktionen in der ungarischen Politik antwortete Zsolt Nagy, politischer Analyst beim Brüsseler Think Tank Demokratische Gesellschaft, gegenüber Voxeurop: „Obwohl die Zivilgesellschaft von den Rechtsextremen zum Sündenbock für zahlreiche Probleme gemacht wird, ist sie populärer als die traditionellen Oppositionsparteien. Diese Popularität hat es ihnen ermöglicht, radikalen Narrativen und Aktionen in den letzten zehn Jahren wirksam entgegenzutreten.“

Die Zusammenarbeit zwischen diesen Akteuren war offenkundig, mit gemeinsamen Kampagnen und der Unterstützung der Initiativen des jeweils anderen. So organisierten sie beispielsweise Anfang der 2010er Jahre Märsche für die Rechte der Roma und protestierten 2023 gegen ein neofaschistisches Festival. Eine besonders wirksame Aktion war die alternative Stimmabgabe während des Referendums 2022. Akteure der Zivilgesellschaft riefen zu einem Boykott auf und ermutigten die Wähler, sich sowohl bei der Ja- als auch bei der Nein-Stimme zu enthalten, als Reaktion auf ein Referendum, das im Namen des Kinderschutzes Einschränkungen für sexuelle Minderheiten vorschlug.“

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist ihr juristischer Aktivismus – Nagy fügt hinzu, dass sie über den Schaden besorgt sind, der Flüchtlingen zugefügt wird, insbesondere Muslimen, die versuchen, über die Südgrenze ins Land zu kommen. Organisationen wie die Hungarian Civil Liberties Union und Migration Aid haben zahlreiche Klagen zur Verteidigung der Menschenrechte gegen neofaschistische Gruppen, radikale lokale Regierungen und sogar den ungarischen Staat selbst eingereicht.

Bei der Suche nach den Wurzeln der Hoffnungslosigkeit der ungarischen Gesellschaft in den letzten Jahren kommt eine interessante Erkenntnis aus einer gemeinsamen Studie des ungarischen Think Tanks Political Capital und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Autoren argumentieren, dass der Grund, warum die Rechtsextremen in Ungarn nicht in der Lage waren, ihre Unterstützungsbasis unter den Wählern weiter auszubauen, darin liegt, dass die Grenzen zwischen populistischen und rechtsextremen politischen Botschaften zunehmend verschwimmen.

In der Praxis bedeutet dies, dass traditionelle Rechtsparteien rechtsextreme Ansichten übernehmen und legitimieren und so zur Radikalisierung des politischen Mainstreams beitragen, und dass rechtsextreme Parteien ihre Rhetorik mäßigen, um eine breitere Wählerschaft anzusprechen. Im Falle Ungarns geht der Witz der Öffentlichkeit in etwa so: Ungarns regierungsnahe Medien und ihre Partner präsentieren manchmal eine so „gemischte Realität“, dass es schwer zu unterscheiden ist, ob es sich um den neuesten Scherz der Zwei-Schwanz-Hund-Partei oder die wahre politische Botschaft der Fidesz-Macher handelt.

Nagy weist darauf hin, dass „die ungarische Zivilgesellschaft im Allgemeinen gegen rechtsradikale Ideologien ist und ihre Stimme gegen sie erhebt, wann immer es möglich ist. Diese Ideologien richten sich oft gegen sexuelle und rassische Minderheiten, lehnen Impfungen ab und stellen die Beziehungen zu westlichen Bündnissen wie der EU oder der NATO in Frage“ – Botschaften, die bei den ungarischen Wählern in der Regel keinen Anklang finden.

„Mi Hazánks Programm umfasst diese Elemente und veranlasst ein breites Spektrum von Mitgliedern der Zivilgesellschaft, von Menschenrechtsverfechtern bis zu Nichtregierungsorganisationen im Gesundheitsbereich, sich gegen populistische Stimmen zusammenzuschließen. Ihre Bemühungen werden jedoch durch die Umsetzung der radikalen Vorschläge der Fidesz-KDNP-Regierung zunehmend in Frage gestellt“, erklärt Nagy.

Zweiseitiges Mainstreaming

Die Politikwissenschaftler warnen vor den Gefahren des Populismus, die als „two-way mainstreaming“ bezeichnet werden. Sie weisen darauf hin, dass sich die Radikalisierung des politischen Mainstreams und die Akzeptanz rechtsextremer Elemente als Mainstream ausbreiten könnten. Dies könnte das politische System destabilisieren, die soziale Spaltung verstärken und das Misstrauen in die demokratischen Institutionen schüren.

Ein interessanter Indikator für den gesellschaftlichen Wandel in Ungarn ist der Demand for Right-Wing Extremism Index (DEREX), der auf der Datenbank der European Social Survey basiert. Und obwohl die Datenbank nur bis 2017 aktualisiert wurde – die Zunahme der gesellschaftlichen Nachfrage hat in den letzten fünfzehn Jahren eine wichtige Rolle beim Erstarken der institutionalisierten rechtsextremen Bewegungen in Ungarn gespielt – wurde der Index mit Daten gefüttert.

Insgesamt zeigen die Statistiken, dass die Ungarn bei Vorurteilen und sozialem Chauvinismus an der Spitze der europäischen Nationen stehen und bei Angst, Misstrauen und Pessimismus mit an der Spitze liegen. Die Daten unterstreichen, dass bei den Jugendlichen über 15 Jahren zwischen 2002 und 2010 ein extremer Anstieg zu verzeichnen war und dass das Land immer noch einen Spitzenplatz unter den europäischen Nationen einnimmt.

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