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Rebecca Harms: „In der Demokratie muss die Meinung durch unabhängige Medien gestützt werden

Rebecca Harms ist eine deutsche Politikerin, die von 2004 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und bis 2016 Vorsitzende der Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz (EFTA) war.

Sie ist derzeit Vizepräsidentin des Europäischen Zentrums für Medien- und Pressefreiheit (ECPMF), der Organisation hinter Voices of Ukraine. Dieses Projekt, an dem Voxeurop als Partner beteiligt ist, zielt darauf ab, ukrainische Journalisten und Medien zu unterstützen.

Angesichts Ihrer Rolle im Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der Pressefreiheit in Europa?

Als EU-Politiker habe ich mit meinen Kollegen im Europäischen Parlament an Initiativen zum Schutz von Journalisten und ihrer Arbeit gearbeitet. Das Parlament unterstützte 2015 die Gründung der ECPMF weil wir uns gegen den wachsenden politischen Druck auf Journalisten wehren wollten. Wir sahen, wie die Regierungen in Ungarn und Polen die Medien in die Schranken wiesen. In Malta und der Slowakei wurden Journalisten ermordet: Daphne Caruana Galizia und Ján Kuciak. Die Türkei, die über den Beitritt zur EU verhandelt, verwandelt sich in das weltweit größte Gefängnis für Journalisten.

Die Initiativen des Europäischen Parlaments wurden von den für dieses Thema zuständigen EU-Kommissaren aufgegriffen – zuerst von Viviane Reding und heute von Vera Jourova. Und nach mehr als einem Jahrzehnt des politischen Ringens hat das Parlament kürzlich den Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit verabschiedet. Dies ist ein wichtiger Schritt zum Schutz der Pressefreiheit und der Journalisten in allen EU-Ländern. Das EMFA wird sich sogar über die EU hinaus auswirken, da die Pressefreiheit bei künftigen Beitrittsverhandlungen mit der UkraineMoldawien und Georgien eine Priorität sein wird.

Warum ist die Pressefreiheit in Demokratien, auch in der Europäischen Union, so wichtig?

In der Demokratie muss die Meinungsbildung durch freie, nicht vom Staat beeinflusste Medien gestützt werden. In repräsentativen Demokratien ist der Journalismus eine Stütze für das Wissen und die Beteiligung der Bürger. Er ermöglicht es Politikern, ihre Ziele und Entscheidungen darzustellen und mit den Bürgern zu diskutieren. Guter Journalismus fördert also eine verantwortungsvolle Meinungsbildung. Deshalb ist es wichtig, dass die Medien selbst demokratisch sind. Sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Medienorganisationen müssen transparent sein und einer nicht-staatlichen Kontrolle unterliegen. Im Vorfeld von Wahlen ist es besonders wichtig, Qualität, Unabhängigkeit und Fairness in der Berichterstattung zu gewährleisten. Schließlich wählen die Bürger Parteien und Politiker, die weitreichende Entscheidungen für sie treffen können.

Welche spezifische Rolle könnten europäische und paneuropäische Nachrichtenredaktionen am Vorabend von EU-weiten Wahlen spielen?

Eine echte paneuropäische Presse wäre sicherlich gut, wenn wir eine qualitativ hochwertige, wirklich europäische Debatte über das führen wollen, was in Brüssel diskutiert und entschieden wird. Auch über das, was in den anderen EU-Mitgliedsstaaten mit ihren unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Agenden passiert, wird derzeit kaum diskutiert. Die Tatsache, dass wir mehr als 27 verschiedene Sprachen sprechen, macht die Sache nicht einfacher. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die EU eine eigene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt braucht, die den heutigen finanziellen Zwängen und technischen Möglichkeiten angepasst ist.

Seit mehr als einem Jahrzehnt wissen wir, dass die sozialen Medien demokratischen Prozessen schaden. Heute sehen wir die Folgen einer ideologisch geprägten Weigerung, das Internet in irgendeiner Form zu regulieren. Das Web hat das heute vielgepriesene globale Dorf möglich gemacht, aber dies ging Hand in Hand mit einem nahezu unbegrenzten Potenzial für die Verbreitung von Propaganda und Unwahrheiten. Allein über die EU-Institutionen kursieren Unmengen von Lügen und Halbwahrheiten. Für die Bürger kann es schwierig sein, die Fakten zu überprüfen, weil Brüssel so weit weg ist oder zumindest so erscheint. Angesichts des schieren Ausmaßes von Informationen und Desinformationen bin ich in diesen Tagen oft ratlos.

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Spielen paneuropäische Medien eine Rolle in Bezug auf die Situation in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern wie Belarus, Moldawien oder Georgien? 

Als zweiter Vorsitzender des ECPMF habe ich versucht, Journalisten und Medienorganisationen in Osteuropa zu unterstützen. Im Übrigen ist es falsch, alle diese Länder als postsowjetisch zu bezeichnen. Vielmehr zeigt die wachsende Rolle, die professionelle Medien und der Journalismus spielen, wie sehr sich diese Gesellschaften seit der Unabhängigkeit verändert haben. Durch ihre Arbeit sind Journalisten auch eine treibende Kraft bei der Demokratisierung und der EU-Integration.

In Belarus wurden Journalisten nach den manipulierten Wahlen und den Massenprotesten gegen den Wahlbetrüger Lukaschenko zur Zielscheibe der Verfolgung. Die Verfolgten und Inhaftierten mussten unterstützt werden, was nicht einfach war. Aber ihre Stimmen mussten auch im Westen gehört werden. Ich hielt es eigentlich für selbstverständlich, dass belarussische Kollegen ihre Arbeit in den westlichen Medien veröffentlichen konnten. Leider musste ich feststellen, dass es im Westen zwar Solidarität, aber wenig Respekt und Neugierde für die Arbeit dieser Journalisten gab.


Mehr Stimmen aus Osteuropa in den europäischen Medien zu präsentieren, ist daher ein Akt des Respekts. Und in einem solchen hybriden Krieg wird es auch der Sicherheit von uns allen dienen

Mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine im Februar 2022 änderte sich auch meine Arbeit beim ECPMF. Während viele Journalisten Belarus und Russland verließen, setzten die meisten ukrainischen Redaktionen und Journalisten ihre Arbeit unter Kriegsbedingungen fort. Im Rahmen der Hannah-Arendt-Initiative wurde das Projekt „Stimmen der Ukraine“ ein Schwerpunkt des ECPMF.

Das Geschäftsmodell der ukrainischen Medien, insbesondere das der Werbung, brach mit dem Ausbruch des Krieges zusammen. Ziel war es daher zunächst, den Journalisten durch eine monatliche Unterstützung die Fortsetzung ihrer Arbeit zu ermöglichen. Dank der Förderung durch das Auswärtige Amt konnten wir dies seit Herbst 2022 für über 100 Journalisten und kleine Redaktionen tun, und dies ist bis 2025 gesichert. Gemeinsam mit verschiedenen ukrainischen Organisationen und Unternehmen (zum Beispiel Public Interest Journalism Lab und The Fix Media) leisten wir auch technische Hilfe und bezahlen Versicherungen für Reporter vor Ort. Wir sind jetzt auch am Lviv Media Forum beteiligt.

Für die Journalisten, die von Voices of Ukraine unterstützt werden, würde ich mich auch freuen, wenn ihre Artikel mehr in den europäischen Medien aufgegriffen würden. Natürlich brauchen wir unsere eigenen erfahrenen Auslandskorrespondenten. Aber in diesem Krieg sind ukrainische Journalisten unsere Augen und Ohren vor Ort: Sie sehen und hören mehr als ihre ausländischen Kollegen.

Seitdem Russland der Ukraine den Krieg erklärt hat, ist das Opferland stärker in den Fokus gerückt. Zuvor konzentrierte sich das Interesse des Westens an Osteuropa auf Russland. Leider hat unser mangelndes Interesse an mittel- und osteuropäischen Ländern wie der Ukraine Russland in seinem Informationskrieg und dann bei seiner Invasion geholfen. Es ist daher ein Akt des Respekts, wenn in den europäischen Medien mehr Stimmen aus Osteuropa zu Wort kommen. Und in einem solchen hybriden Krieg ist es auch ein Beitrag zu unser aller Sicherheit.

Übersetzt von Harry Bowden

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