Artikel
Videos
Podcasts
Suche
Close this search box.

Von Vergewaltigung, Zustimmung, Macht (und Frauenmord)

Wie sollte eine Vergewaltigung definiert werden? Der Begriff der Zustimmung zieht eine Trennungslinie zwischen den Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament, wo das Thema zur Debatte steht. In diesem Beitrag wird untersucht, wie dieses Konzept zu einer neuen Revolution führt, sowohl im affektiven als auch im sexuellen Bereich.
Voxeurop

Der französische Film Le Consentement („Die Zustimmung“) von Vanessa Filho hatte unerwarteten Erfolg und ein ebenso unerwartetes Publikum. Er hat den Begriff der Zustimmung in Frankreich, aber auch in anderen europäischen Ländern wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gestellt.

Es handelt sich um die Verfilmung des gleichnamigen, 2020 erschienenen Buches von Vanessa Springora , das die Geschichte der Beziehung zwischen der Autorin und dem Schriftsteller Gabriel Matzneff (gegen den jetzt weitere Vorwürfe wegen sexueller Gewalt gegen Minderjährige erhoben werden) erzählt. Sie ist 14 und er ist 50. Vor den Augen aller: der Familien, der Gesellschaft und der öffentlichen Meinung.

Die „Revolution der Zustimmung“

Der Text stellt einen kollektiven Schritt dar, um die zahlreichen Fragen in Worte zu fassen, die sich durch die Geschichte von Männlichkeit und Weiblichkeit, Macht und Gewalt gezogen haben und mit #MeToo explodierten: Was ist Zustimmung? Was bedeutet es, einer Beziehung, Geschlechtsverkehr zuzustimmen? Wie sieht das Machtverhältnis aus, das intime Beziehungen durchzieht? #MeToo war eine „Revolution der Zustimmung“, schreibt Mediapart.

Gleich nach seinem Erscheinen war der Film Le Consentement ein ziemlich guter Publikumserfolg, vor allem bei der gebildeten Mittelschicht in den Großstädten, berichtet Le Monde. Und dann die Überraschung: Zehn Tage, nachdem er in die Kinos kam, gingen „junge Leute unter zwanzig, oft Mädchen um die fünfzehn Jahre alt, die bereits Partner haben, mit Freunden oder Eltern, viele aus Arbeitervierteln, die nie von dem Buch gehört hatten“ ins Kino. Dieses Publikum macht fast die Hälfte der verzeichneten Besucherzahlen aus. Was ist passiert? TikTok hat einen Film zum „Phänomen“ gemacht, ein intimes Ereignis, sagt Radio France: Diese jungen Frauen haben sich beim Betreten und Verlassen der Kinosäle gefilmt. Einige unter Tränen. Der Hashtag #leconsentement hat zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels 32 Millionen Aufrufe erreicht. Das Buch, von dem monatlich etwa 1.800 Exemplare verkauft werden, hat sich bis Oktober 17.500 Mal verkauft.

Ein weiterer Film zum gleichen Thema erzählt die Geschichte der Beziehung junger Menschen zu Sex, Liebe und Zustimmung: How to Have Sex, von Molly Manning Walker (der Film gewann in Cannes den Preis „Un Certain Regard“). Auf The Guardian fordert Barbara Ellen alle auf, sich diesen Film anzusehen, weil er uns „eine fundamentale und verheerende Wahrheit sagt: Egal wie viel über sexuelles Einverständnis theoretisiert und debattiert wird, ‚in der Praxis‘, wo es darauf ankommt, wo die echten Mädchen und Jungen sind, bleibt es ein schlüpfriges und allzu oft nicht existierendes Konzept“. Allen zufolge „ist es an der Zeit anzuerkennen, dass Raubtiere die Schlupflöcher und das Kleingedruckte der sexuellen Zustimmung ausnutzen. Für sie ist auch eine widerwillige Zustimmung eine legale Zustimmung. Man muss bedenken, dass junge Menschen zwar informiert sind, aber dennoch verletzlich bleiben.“

Konsens bei der Definition von Vergewaltigung

Am 14. November trafen sich Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten, um erneut über die vorgeschlagene Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu diskutieren. Sie wurde am 8. März 2022 auf den Weg gebracht, um zu definieren, was sexuelle Gewalt ist (Vergewaltigung, einschließlich Vergewaltigung in der Ehe, Verstümmelung, Zwangsheirat, Zwangssterilisation, Belästigung …) und wurde im Juni 2023 von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments angenommen, wie der deutsch-französische Fernsehsender Arte berichtete.

Im vergangenen Juni hatten jedoch die Justizminister einiger Länder – allen voran Frankreich, aber auch UngarnPolenKroatienTschechische Republik und Deutschland – Artikel 5 abgelehnt, der eine Vergewaltigung als „Fehlen der Einwilligung“ definiert. 

Die Länder, die den Artikel – zumindest formal – ablehnen, tun dies auf der Grundlage einer rechtlichen Definition, erläutert Le Monde: nur die ‚Euro-Verbrechen‘ – Korruption, Terrorismus oder sexuelle Ausbeutung –, die in Artikel 83 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (TfUe) aufgeführt sind, fallen in den Kompetenzbereich der EU. Die anderen fallen in die nationale Zuständigkeit.

Und dann gibt es noch ein anderes, kulturelles und soziales Problem: Wie soll man den Begriff der Zustimmung verwenden, definieren und rechtlich betrachten? Wir wissen aufgrund von Studien – Nature, Mai 2023 zum Beispiel – und des gesunden Menschenverstands, dass sich Angst nicht immer in körperlichem Widerstand und einem klar und laut ausgesprochenen oder auch nur geflüsterten „Nein“ äußert. Und dass ein „Ja“ auf viele verschiedene Arten und aus verschiedenen Gründen gesagt werden kann. Obwohl der Begriff in den Bereich der Sitten und der Semantik fällt, kann er aus juristischer Sicht sehr komplex sein.

In den Kolumnen von Libération spricht sich die amerikanische Feministin und Juristin Catharine MacKinnon, der wir den juristischen Kampf um die Definition der sexuellen Belästigung verdanken und die soeben Le Viol redéfini (Flammarion, 2023) veröffentlicht hat, gegen die Änderung des französischen Gesetzes selbst aus, das Vergewaltigung als einen sexuellen Akt definiert, der mit „Gewalt, Zwang, Drohung oder Überraschung“ begangen wird.

„Wenn man das Gesetz ändern will, muss man die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern deutlich machen, die in Unternehmen, Intimbeziehungen, Paaren und Familien bestehen. Wie kann man seine Zustimmung geben, wenn man sich in einer Situation der sozialen Ungleichheit befindet? Die Zustimmung wird benutzt, um den Gehorsam der Machtlosen gegenüber dem Gesetz der Mächtigen zu rechtfertigen“, erklärt MacKinnon.

Laut MacKinnon sollte das aktuelle Gesetz nicht mit dem Konzept der Zustimmung verbessert werden, sondern „die Dimension der Ungleichheit einbeziehen: Klasse, Alter, ‚Rassen‘, Minderheiten, Nationalitäten, Religionen, Behinderungen, die Liste ist umfangreich und wird im Recht detailliert“.


Geschlechtsspezifische Gewalt

Nach Schätzungen des Berichts von Un Women Gender-Related Killings of Women and Girls (Femicide/Feminicide) wurden im Jahr 2022 weltweit 45.000 Frauen und Mädchen von einem Partner/Familienmitglied getötet.

In Europa werden nach Angaben der Kommission jede Woche etwa zwei Frauen von einem Partner oder einem Familienmitglied getötet. Die Daten sind nicht präzise, weil die Definitionen nicht einheitlich sind und die Erfassung nicht homogen ist. Die MIIR-Erhebung, die wir in Zusammenarbeit mit dem European Data Journalism Network (EDJNet) im Jahr 2022 veröffentlicht haben, berichtet, dass zwischen 2011 und 2021 mehr als 6.500 Frauen (Zahl rückläufig) in der EU durch die Hand ihres Partners oder eines Familienmitglieds ums Leben gekommen sind.

Am 1. Oktober trat in der EU das Istanbuler Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Kraft, berichtet Eunews – obwohl sechs Länder sich weigerten, es zu ratifizieren (Bulgarien, Tschechische Republik, UngarnLettlandLitauen und Slowakei): Nach dem genannten TfUe müssen diese sich daran halten, weil die von der Union geschlossenen internationalen Abkommen „die Organe der EU und der Mitgliedstaaten binden“. 

Das Patriarchat ist verwundet, deshalb ist es brutaler – Interview mit Ilda Dominijanni

Graziella Balestrieri l L’Unità | 22. November | IT

Giulia Cecchettin war eine 22-jährige Studentin. Am 11. November wurde sie von ihrem Ex, Filippo Turetta, mit dem sie weiterhin befreundet war, ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden nach Angaben des italienischen Innenministeriums 102 Frauen getötet, 82 davon im familiären und/oder emotionalen Umfeld, 53 davon durch ihren Partner (oder Ex).

Die Journalistin Ida Dominijanni, die von L’Unità interviewt wurde, gibt eine systemische Lesart dieses Phänomens angesichts von Diskursen – in Talkshows, von Politikern – die es auf Kriminalität oder individuelle Abnormität reduzieren: „Es gibt eine ganze Reihe von Meinungsmachern, die sich darüber wundern, dass es in Italien weniger Frauenmorde gibt als in den nordeuropäischen Ländern, und die daraus den Schluss ziehen, dass es falsch ist, Frauenmorde auf eine patriarchalische Kultur zurückzuführen. Hinter diesem Einwand verbirgt sich eine völlige Unkenntnis dessen, was Patriarchat ist. Das Patriarchat ist ein kulturübergreifendes sozio-symbolisches System, das in verschiedenen Formen in unterschiedlichen Kulturen anzutreffen ist und nicht durch die Demokratie besiegt wurde. Wir haben es mit einem Post-Patriarchat zu tun, das nicht mehr das traditionelle Patriarchat ist, in dem die Frauen nicht einmal getötet werden mussten, weil sie domestiziert waren. Jetzt haben wir ein verwundetes Patriarchat, verwundet durch die errungene Freiheit der Frauen, das dann auf diese Freiheit auf abscheuliche Weise reagiert.“

Francesca Barca

Übersetzung Angela Eumann

More from

Choose your language

You can always edit it later

Wählen Sie Ihre Sprache

Sie können sie später jederzeit bearbeiten.

Willkommen bei

Display Europe!

Wir sind dabei, unsere Website zu verbessern, und Sie können uns dabei helfen, indem Sie uns Probleme melden. Klicken Sie auf das Flaggensymbol in der unteren rechten Ecke und schreiben Sie uns eine Nachricht. Wir schätzen Ihre Geduld und Ihre Unterstützung.

Wählen Sie aus 15 Sprachen